Verdichtete Zeit

Andrea Neumann, flüchtig | éphémère

Dr. Mona Stocker

Die Gemälde von Andrea Neumann schlagen unmittelbar in Bann. Trotz ihrer Ruhe und Stille ziehen sie wie ein Sog den Blick bedingungslos auf sich. Wenngleich man sich sofort behaust fühlt, nehmen einen die Bilder doch desto bereitwilliger in ihren Raum auf, je länger man mit ihnen verweilt – bis man gleichsam ein Teil ihrer Welt wird, selbst wenn man – naturgemäß – außen vor bleibt. Die Bilder machen das jedoch vergessen; sie lassen die Zeit vergessen: die Zeit ist ihr Thema.

Andrea Neumann besitzt ein untrügliches Sensorium für die Tragweite bestimmter Augenblicke, deren spezifische Qualität sie zunächst und auf die Schnelle mittels einer Fotokamera einfängt. Das Gesehene wird provisorisch fixiert, um sodann in der Erinnerung sein neues und eigentliches Leben zu beginnen. Die Wesenheiten dieser persönlichen Schnappschüsse, d.h. die Bruchteile von Zeit, die Ausstrahlung der in ihr handelnden oder auch nur anwesend seienden Personen, die alles einende Atmosphäre – all dies in kontinuierlichem Schaffen der Kunst der Malerei abzugewinnen, das ist Andrea Neumanns besondere Fähigkeit. Es macht die Bannkraft ihrer Bilder aus, die erheblich mehr in sich tragen als eine simple Ab-Bildung. Sie bergen Stimmungen, emotionale Spannungen und Harmonien, Temperaturen, Eigenheiten der Luft, Wesenszüge – so wie ein Gehirn Erinnerungen speichert. Eindrücke – vage und zugleich äußerst konkret -, die kognitiv und sprachlich nicht in vergleichbarer Weise fassbar sind.

Was wie ein Aufscheinen von Darstellung aus dem Bildträger heraus wirkt, ist – im übertragenen Sinne – eher als dessen Gegenteil zu sehen: Die in großen Zügen aufgetragene, tonige Eitempera lässt die Bilder quasi in den Raum, in die Zeit hinein fließen. Statt eines (de facto vorhandenen) Aufbaus von Malschichten stellt sich der Eindruck eines Zurückflutens ein. Als assimiliere sich die Farbigkeit im stufenweisen Rückbau der Töne vom Dunklen zum Hellen dem natürlichen Urboden der groben, transparent grundierten Leinwand. Diese Art der Annäherung an den Malgrund symbolisiert die parallel stattfindende Annäherung an den Seinsgrund, die im Herausdestillieren von Lebensessenz gipfelt. Die freien Stellen der Leinwand, die einkomponierte Leere um die Farbmalerei stehen für die blinden Flecke der Erinnerung.

Die bewahrte Atmosphäre des einst Wahrgenommenen ist präsent, aber (was auch gar nicht nötig ist) nicht en detail konkretisierbar. Das „Verwaschene“ des Farbauftrags gesteht die Unschärfe des erinnernden Erblickens im Rücksprung der Zeit ein. Es steht für die flüchtige Differenz vom einstigen Sehen in der Vergangenheit zum rekonstruierenden Abrufen des Erinnerten im Gegenwärtigen. Dass die Gesichter der Protagonisten ausgespart, schlichtweg ausgelassen sind, dass sie quasi aufgehen im unbestimmten Kontinuum, das die Ebene der Leinwand vorgibt, trägt paradoxerweise vielmehr zu ihrer sphärischen Verortung und Bestimmung bei, die durch Umgebendes erweitert wird, als dass die Figuren dadurch anonymisiert oder gar reduziert wären. Durch die Leere wird ein Mehr erzeugt, als es die abbildliche Realisation erzielen könnte.

Das Gemälde Chronologie (hier signalisiert schon der Titel das Thema „Zeit“) aus dem Jahr 2007 kommt mit wenigen Farben und wenigen gezielten Pinselsetzungen aus. Die Darstellung ist auf Schemen beschränkt: vier Figuren auf einer Bank, rechts ein Baumstamm oder Mast, unten Boden. Und doch wird unmissverständlich deutlich, dass es sich um einen Sommertag handelt, dass alle Figuren Frauen sind, dass sie vier Generationen entstammen und dass sie familiär verbunden sind. Keines der Gesichter nimmt Züge an – und trotzdem hat jede Figur ihren individuellen Platz und ihr „Gesicht“. Andrea Neumann vermag das augenblickliche Verfasstsein und die Zuständlichkeiten von Menschen und Situationen herauszufiltern und in einem Kondensat festzuhalten, das auf alles verzichtet, was nicht beschäftigungs- oder erinnerungswürdig ist. Alles Unerhebliche wird ausgesiebt und passiert den Wahrnehmungsfilter nicht.

In einem weiteren „Sommerbild“ o.T. aus dem Jahr 2006 genügen drei lichte Farbtöne und ein breiter, lockerer Pinselduktus, um die Luftigkeit und Vergänglichkeit eines fragilen Augenblicks, das Vorübergehende eines Nachmittags fassbar zu machen. In Schrägaufsicht zeigen sich diptychonartig einander gegenüber positioniert ein Mädchen im orangenen, duftigen Sommerkleid und eine es an Größe beinahe überragende rosige, flockig-leichte Zuckerwatte. Es braucht weiter nichts darum herum, außer vielleicht ein paar verlaufenen Farbspuren, die daran gemahnen, dass man es mit gemachter Erinnerung zu tun hat. Zartheit und Verletzlichkeit gehen von dem durchscheinenden, hellen Farbschleiernetz aus, aber auch Schönheit und Zugewandtheit zum Leben. Der freie Umraum hat nichts von beängstigender Leere. Er ist behütend – eine bergende, schützende Aura. Als sei er Abbild der Ausstrahlung der Person (des Mädchens), Darstellung ihres „Wirkraumes“.

Die Figuren, die Andrea Neumann für ihre Gemälde wählt, sind starke Eigengestalten, die in sich ruhen und die dieses Gefühl des In-Sich-Ruhens auf den Betrachter übergehen lassen. Alltagsgestalten in Alltagssituationen, erkennbar gemacht bzw. ausgezeichnet durch ein besonderes Licht, eine eigentümliche Spannung oder dergleichen, die die Malerin zum Fotografieren herausfordern. Die Serie work führt Handwerker bei ihrem Tun vor, wie z.B. den Anstreicher, der der Decke ein Weiß verpasst, das zugleich Akzent der diagonal angelegten Bildgestaltung ist. Die Arbeitenden sind versunken in ihre Tätigkeit, sind eins mit ihr und gehen in ihr in ihrem Mensch-Sein auf. In der Bildkomposition ins Zentrum gerückt, sind sie unangefochten der Mittelpunkt ihrer Welt. Unaufgeregt verkörpert sich im Beiläufigen das Lebenstypische.

Andrea Neumann negiert jedoch nicht den Gegenpol zum friedvollen Einklang. In silver sixpence, 2006, beispielsweise ist die weiße, geisterhaft auftauchende Frauengestalt der Serie noces (Hochzeit) geradezu eingepfercht von der sie umgebenden Dunkelheit, die sie ausgesetzt lässt in vollkommener Ort- und Raumlosigkeit. Es strahlt eine Schwermut aus, wie von Menschen, für die etwas nicht stimmt, wenngleich der Betrachter versöhnt wird durch die feine Behandlung der Farbnuancen und Farbkontraste. Die Flüchtigkeit des Erscheinens dominiert jedoch auch hier; es spiegelt sich nur ein Moment. Es kann anders weitergehen, sich wieder zum Positiven wenden – oder gar eine Täuschung gewesen sein. Die neueste Werkreihe von Andrea Neumann ist bezeichnenderweise claim betitelt. Das legt Anspruch auf etwas nahe, aber auch das Hüten von Verborgenem, das man in einem abgezirkelten Feld zu finden hofft. Durch ihre Ader für das Verborgene und Changierende des Augenblicks trifft Andrea Neumann in ihrer Malerei das Latente und Ambivalente von Erscheinungen.

Ein sich ins Unermessliche verjüngender, schwarz in den Vordergrund mündender Straßenverlauf prägt die orientalische Landschaft travers, 2007. Drei magere Pferde mit abgeschabten Fellen bewegen sich am Äußersten des Sichtkreises des Betrachterauges. Geistlos und doch unbeirrt nehmen sie ihren Platz am Rand hin. Die karge, kaum bestimmte Landschaft dehnt die Stimmung der Ödnis in die Weite des Raums aus, so dass das „Nichts“ rund herum von ihr gesättigt ist. Die unendliche Weite der Erde geht in die des Himmels über – eine Ewigkeit ist hier leise eingefangen.

Andrea Neumanns Motive suchen das Dauerhafte, das sich bisweilen in kurzen, raren Augenblicken anschaulich manifestiert, in den Momenten zwischen zwei Wimperschlägen, die im unsichtbaren Lebensfluss fortleben. Ihre Malerei widmet sich der Zeitspanne zwischen flüchtigem Sehen und erinnertem Verewigen. Während des Malprozesses, im fortwährenden Sich-Befassen mit diesen Momenten geht die entscheidende Verdichtung vor sich, die das Vergängliche ins Überzeitliche übersetzt.

„…in dem Moment, in dem sich der Geist eine klare Vorstellung bildet,

dringt der Pinsel bis zu den Wurzeln der Dinge vor …“

Shitao (1641-nach 1710) / chinesischer Maler der Qing-Dynastie

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