Es ist immer halb Drei

Atelierbesuche – Visites d´Atelier, mediArt, Luxembourg

Dr. Sabine Graf

Die Straße biegt nach rechts. Doch man muss geradeaus. Vorfahrtachten lautet das Gebot, obschon die Straße schmal, die Umgebung fast dörflich ist, hier am Rand des Stadtteils Saarbrücken-Burbach. Dennoch, wer sorglos mit seinem Fahrzeug weiter fährt, der begibt sich in Gefahr. Sofern er nicht genau die Umgebung beobachtet und gegebenenfalls reagiert. Die Straße steigt leicht an und führt zu einem Plateau. Vorbei an einem Pförtnerhaus zur Linken und einem mächtigen Gebäude mit Turm und Glocke zur Rechten. Dazwischen die Improvisation eines mit parkenden Autos bewehrten Platzes, umzingelt von Hallen mit sehr zackigen Dächern.

Das weitläufige Gelände des ehemaligen Eisenbahnausbesserungswerkes Burbach ist ein Industriedenkmal, dem der Strukturwandel neues Leben geben soll. Der Blick fällt auf das große Zifferblatt einer Uhr an einer Fassade am anderen Ende des Geländes. Halb Drei, obwohl alle anderen Uhren elf Uhr vormittags anzeigen. Eine Fläche mit großen Gebäuden und merkwürdigen Randerscheinungen außerhalb der Zeit: Ein idealer Ort für die Malerin Andrea Neumann, die in einem ehemaligen Magazingebäude ihr Atelier hat. Hier ereignet sich wenig und gerade deshalb so viel. Man kann auf einer Stelle stehen bleiben und die kleinen Veränderungen bemerken. Kein Zufall, so scheint es, dass eine Ausstellung von Andrea Neumann den Untertitel „heimliche Landschaften“ trug. Es waren Bilder von Dingen und Menschen, die im nächsten Moment mit deren Bewegung im Raum verloren gehen. Schon sind sie in einem anderen Bild. Im Grunde müsste sie ihr Atelier nie verlassen und hätte dennoch genug Bilder für ihre „Tages-Schau“ beisammen, mit der sie die Bilder der „heimlichen Landschaften“ übertitelt hatte. Dann ist sie Reporterin, Redakteurin und Regisseurin für ihre Nachrichten aus der wirklichen Welt. Doch das war schon der zweite Schritt. Der erste sollte sie ins Theater führen. Bühnenbild wollte sie studieren und merkte bald, „das war nicht meine Welt. Ich fand heraus, dass ich meine Fragen selber formulieren will.“ Dazu brauchte sie Zeit, um diese Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, wobei ihr Kunststudium an der Hochschule der Bildenden Künste in Saarbrücken bei Bodo Baumgarten und Jo Enzweiler half. Das war 1991, als die in Stuttgart geborene Andrea Neumann mit 22 Jahren ins Saarland kam und bis heute geblieben ist. Die Bewegungen bleiben sparsam, aber der Radius ihres malerischen Kosmos ist weit wie die Welt. Die erste und einzige Bedingung ist genau hinzuschauen und warten können. Das Atelier ist Sammelstelle für diese Blicke, die Andrea Neumann auf Fotos gebannt hat. „Ideenskizzen“, sagt sie über ihre Materialsammlung. Auf dem rauen Fenstersims liegen Fotos, einige kleben an der Wand und lauern unter feinem Staubfilm darauf, neue Botschaften weiterzugeben. Pigmente in Säckchen verteilen sich über den ruppigen Estrich, ein Kanister mit Verdünnung, Dosen und Schalen warten darauf beides zu verbinden. Großformate lehnen an den Wänden.

Das Atelier ist Baustelle, mehr Werkstatt als Wohnzimmer, ein unbehaustes Areal im Wartestand für mögliche Bilder.

Im ehemaligen Magazin des Ausbesserungswerks geht die Arbeit weiter. Aufs Stichwort röhrt irgendwo eine Bohrmaschine und eine Gischt Betonbrösel zerschellt an der Fensterscheibe. Das Abwesende schafft sich immer wieder Raum, das Unbeachtete dringt ins Bild vor. Auf einer Leinwand hält ein Mann eine Bohrmaschine in der Hand. Andrea Neumann kennt die Bedingungen ihrer Malerei. Beobachten und Warten. „Deshalb sitze ich lange im Atelier und gehe gar nicht an die Leinwand.“ Vorzeichnungen oder Notizen macht sie nicht, sagt sie. Ihre Bilder entstehen aus anderen Bildern. Wie das geschieht, ist letztlich nicht zu erklären und bleibt notwendig „ihr selbst ein Rätsel“. Wie auch die Entscheidung für ein Bildmotiv, ob Kinderspielzeug, Hochzeit oder filmende Touristen einfach da ist. Das Malen folgt später und fixiert den Augenblick. Es ist kein Verströmen ins kleinteilige Farbmosaik der frühen Jahre mehr. Seit einiger Zeit schafft Andrea Neumann mit breitem, sicherem Strich mit der Konzentration des Kalligrafen Figuren inmitten von Alltagsszenen auf der Straße, am Tisch, im Wald, im Wartesaal. Die Gegenstände aufzugeben, kam für sie nie in Frage. Ein „formales Spiel“ wollte sie nie beginnen. Doch birgt dieses Warten auf den Moment immer ein Risiko. „Ich kann nichts übermalen. Das macht es interessant.“ Andrea Neumann hat die allgemeinen Geschäftsbedingungen ihres Lebens akzeptiert.

Die Szene wechselt, die Zeit ist abgelaufen. Die Mittagspause hat begonnen, der Bohrer schweigt. Im Flur vor dem Atelierraum ist immer noch Baustelle. Ein Mann sitzt in einem leeren Raum auf dem Boden. Er liest eine Zeitung. Ein mögliches Bild der Malerin. Draußen liegt die Landschaft ruhig in matter Farbigkeit und verharrt im Wartestand. Es ist Mittag und, immer halb Drei.

Dr. Sabine Graf
Website Sabine Graf – Massschreiberin

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