Cornelieke Lagerwaard
Der lateinische Begriff vice versa heißt wörtlich übersetzt: „an Stelle“ (vice) „wenden“ (verdere). Im deutschen Sprachraum bedeutet vice versa meistens „hin und her“, „reihum“ (der Reihe nach), „… und umgekehrt“ (in der gleichen Weise zutreffend). Interessant ist, dass diese Bezeichnungen eine Bewegung implizieren, wobei es keinen Anfang und kein Ende gibt. Vice versa beschreibt die zwei Seiten einer Sache, die sich nicht nur gegenseitig bedingen, sondern sogar unmittelbar voneinander abhängig sind.
Andrea Neumann hat sich bereits während ihrer Studienzeit in Saarbrücken – in einer Zeit, als die Videokunst als „das neue Malen“ bezeichnet worden ist – für die „traditionelle“ figurative und gegenständliche Malerei entschieden. Seitdem geht sie konsequent eigene Wege und scheut sich nicht, weitere Möglichkeiten des „alten Mediums“ zu erkunden. So benutzt sie als Malmittel die älteste Technik überhaupt, und arbeitet mit Farben, die aus Eigelb, Leinöl und Wasser hergestellt werden.
Ihre motivischen Ausgangsmomente sind vielfältig. Auf den ersten Blick ist das wichtigste Thema der Mensch, genauer gesagt, das menschliche Tun. Wenn er nicht selbst in den Bildern anwesend ist, hat er zumindest deutliche Spuren hinterlassen: Beichtstühle, Bücher, ein Küchentuch oder auch ein Zelt. Als Vorlage dient meistens ein Foto, oder eine Kombination mehrerer Fotos. Andrea Neumann inszeniert nicht, denn sie legt Momente fest, die sie im Alltag vorfindet. Fotos bilden einen wichtigen Teil des Bildfindungsprozesses, aber sie sind nur dessen Anfang. Im Laufe der malerischen Umsetzung übersteigt das Ergebnis die Realität. Allerdings macht die Künstlerin in ihren Bildern deutlich, dass auch die Realität bloß eine Idee ist. Es gibt lediglich unzählige Möglichkeiten, diese zu betrachten: Wahrnehmung beruht auf Interpretation und Erfahrung. Das Foto ist bereits eine Illusion; eine festgehaltene, wenn auch bruchstückhafte Erinnerung. Unser Gehirn baut die Welt aus lauter Eindrücken alle drei Sekunden neu zusammen, dafür brauchen wir keine Fotos. Für Andrea Neumann sind sie aber Gedankenskizzen, mit der Kamera vorformulierte Bildnotizen. Bereits auf diesen Fotos ist zu erkennen, dass Ihre Art, die Welt zu betrachten, außergewöhnlich ist.
Nach dem zündenden Moment in der eine Bildidee entsteht, beginnt das Suchen, Abwägen, Wegstreichen. Wenn es ihr notwendig erscheint, bändigt sie „Nebengeräusche“, und wenn es die Komposition von ihr verlangt, korrigiert und nuanciert sie. So lässt sie sich von den Ereignissen während des Malprozesses, von der Energie die sie selbst freisetzt, tragen – gleichzeitig jedoch herrscht sie über die Kräfte, die sie hervorruft. Sie malt Bewegungen oder legt diese wieder still, sie belebt Prozesse, die sie anschließend wieder erstarren lässt. Hierbei spielt die Farbe eine wichtige Rolle, die in vielen Bildern autonom wirkt, nicht unbedingt an die Gegenstände gebunden. Undeutlich definierte Farbformen, die sich aus den Schatten im Hintergrund verselbstständigt haben, erwecken den Eindruck eines unendlichen Raum-Zeit-Gefüges. In anderen Bildern ist gerade der Hintergrund auf eine bestimmte Hauptfarbe reduziert, und ist es die Figur oder der Gegenstand, die/der alle (malerische) Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auch hier hat sich die ursprüngliche Geschichte in Unendlichkeit und Zeitlosigkeit beinahe aufgelöst.
Andrea Neumann bändigt, wenn sie es für nötig hält, die Kraft ihrer dynamischen Pinselführung, indem ihre Farbpalette vorwiegend natürliche, gedämpfte Farben aufweist. Die spürbare Expressivität findet eher unterschwellig statt, und verleiht den Bildern Spannung. Zudem werden die Farben so verdünnt aufgetragen, dass auch dunkle Farben lasierend wirken. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Licht aus dem Hintergrund durchschimmert, wie eine diffuse Erinnerung, die sich einen Weg in das Bewusstsein sucht. Die Fotovorlage ist vergessen, auch wenn die ursprünglichen Handlungen oder Gegenstände eben noch erkennbar sind. Mit Hilfe dieser verbleibenden „Realität“ findet der Betrachter einen sofortigen, gefühlsmäßig „einfachen“ Zugang zu dem eigentlichen Bildinhalt: dem Versuch, die Spuren der Raum- und Zeitlosigkeit unserer Erinnerungen zu fixieren. Und allmählich ahnen wir, dass es hier vielleicht gar nicht in erster Linie um Menschen geht, sondern um die Erfahrung von Raum und Zeit, um das Problem der Zeitvorstellung, Gegenwärtigkeit und Existenz überhaupt. Mit ihrer Arbeitsmethode hebelt sie in ihren Bildern die Menschen – oder eben die „Menschendinge“ – aus der Zeit heraus. Es findet keinen Ablauf statt. Sie zeigt Zeitraffer und Zeitlupe in einem – und vice versa. Die Zeit ist angehalten worden, nur wir können uns noch bewegen – meinen wir. Die Bilder ziehen uns sofort in ihren Bann.
Andrea Neumann erarbeitet oft mehrere Bilder im Rahmen eines einzelnen Motiv- und Themenkomplexes. So gibt es den „Richter“ und ein „Orakel“, es gibt Bilder, die vom Anfang des Lebens („Taufbecken“), andere wiederum vom Tod („Sarkophag“) handeln. Diese Bilder sind nicht etwa als Serie konzipiert; sie sind lediglich dem gleichen Motivkomplex entsprungen. Hin und wieder könnte es dem Betrachter in den Sinn kommen, hinter der Motivwahl der Künstlerin eine – verhaltene – Gesellschaftskritik zu vermuten. Titel wie „Richter“, „Beichtstuhl“ oder „Clandestin“ rufen möglicherweise Fragen in diese Richtung auf. Doch obwohl es den Anschein hat, beziehen sich die Titel nicht auf konkrete Begebenheiten, sondern wollen den Blick für die Diskrepanz zwischen unserer Alltagserfahrung vom Zeitablauf und der wissenschaftlich verbürgten Nicht-Existenz der Zeit schärfen. Sympathisch formulierte es vor über hundert Jahren der Physiker und Philosoph Ernst Mach. Er meinte, dass alle Dinge und Prozesse nicht in einer „transzendenten“ Zeit ablaufen, sondern nur voneinander abhängig sind. Und vice versa natürlich. Wobei wir wieder beim Thema wären.
Das Betrachten eines einzelnen Gemäldes bleibt in unserer Zeiterfahrung immer eine Phase oder Etappe, ein Moment. Nur in einer Ausstellung – oder in diesem Katalog – bietet sich die Gelegenheit, mehrere Bilder anzusehen, sie mit einander zu vergleichen, Momente zu verknüpfen. Beim Besuch der Ausstellung oder Durchblättern des Katalogs begibt man sich auf eine imaginäre Reise, die wesentlich mehr verspricht, als eine bloße Begegnung mit der Erfahrungswelt der Künstlerin.