metamorph

Roland Mönig

„Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel“, heißt es in Theodor W. Adornos „Ästhetischer Theorie“. Kunstwerke sagten etwas, nur um es „mit dem gleichen Atemzug“ zu verbergen. Sie seien „Vexierbilder“, vor denen die „prästabilierte Niederlage“ des Betrachters gleichsam ausgemacht sei. Diesem „Rätselcharakter“ der Kunst stehe das „Realitätsprinzip“ gegenüber, dem nur das sinnvoll scheint, was einen Zweck hat und verwertbar ist. Der Zweck des Kunstwerks aber sei „die Bestimmtheit des Unbestimmten“, und das Geheimnisvolle des Kunstwerks überlebe letztlich auch „die Interpretation, welche die Antwort erlangt“.1

Ganz selbstverständlich finden im Rahmen von Andrea Neumanns Ausstellung in der Städtischen Galerie Neunkirchen an der Stirnwand des Raumes drei Arbeiten zusammen, die unabhängig voneinander entstanden sind und unterschiedlichen Motivkreisen im Werk der Künstlerin angehören: zwei vielfigurige Gruppenbilder und die intime Darstellung eines Paares. Zusammen bilden sie ein überraschend schlüssiges „Triptychon“, das sogar dem Knick in der Wand, der aus der Bau- und Nutzungsgeschichte des heute musealen Zwecken dienenden Saals herrührt, noch Sinn und Bedeutung abringt.

Das äußerst linke Bild in dieser Dreierkonstellation heißt „einfache Vergangenheit“ (2015): Ein rundes Dutzend Menschen, anscheinend ausschließlich Frauen, einige davon mit Kopftuch, steht dichtgestaffelt in einem unbestimmbaren Raum, der links durch einen hellen vertikalen und unten durch einen dunklen horizontalen Streifen begrenzt wird. Handelt es sich um einen Balkon oder um eine Fensteröffnung? Klar erkennbar ist nur, dass im Vordergrund ein Kind mit einer auffälligen weißen Hose gehalten, gleichsam vorgezeigt wird. Etwas Gestriges liegt über diesem Bild, über seiner Farbe, über den mehr zu ahnenden als zu sehenden Kleidern der Figuren. „Einfache Vergangenheit“ heißt die Arbeit nicht ohne Grund, denn sie ist nach einem alten Foto entstanden. Ganz offensichtlich aber will das Bild nicht etwa suggerieren, dass Vergangenheit einfach sei. Dazu ist es dem Auge und der Interpretation zu schwer zugänglich.

„Clash“ (2016), die Arbeit in der Mitte, ist ebenfalls ein Gruppenbild, aber von konträrem Charakter: Während in „einfache Vergangenheit“ eine große, geradezu statuarische Ruhe herrscht, ist hier alles in aggressiver Bewegung, und eine brutale Geste beherrscht die Bildmitte: ein energisch austretendes Bein. Das Motiv von „clash“ ist ganz und gar gegenwärtig, ist offensichtlich und auf schmerzhafte Weise von heute, bis in die flackernden Farbakkorde und in die Dynamik der Pinselzüge hinein. Wie der Titel andeutet, wird hier gekämpft: Man meint, die charakteristischen Schutzschilde aus transparentem Kunststoff zu erkennen, wie Polizisten sie bei Einsätzen während Demonstrationen tragen, und auch die dazu passenden Helme mit Visier.

Durch besagten Knick in der Ausstellungswand von den beiden anderen Bildern abgetrennt, hängt rechts außen das dritte Bild: „certain“ (2016) – eine, was das Personal betrifft, deutlich reduzierte Komposition, bestehend nur aus zwei Figuren, einer männlichen und einer weiblichen, die eng aneinandergeschmiegt liegen. Noch irritierender als bei den beiden Gruppenbildern wirkt sich hier die unverwechselbare künstlerische Handschrift Andrea Neumanns aus – ihre offene, bei aller Präsenz des Farbmaterials mitunter ins Aquarellartige sich verflüchtigende Malweise, die das Motiv eher andeutet (wenn nicht gar verunklärt), statt es zu zeigen. Man kann sich diesem Bild nicht nähern, ganz ähnlich wie man sich den Skulpturen Giacomettis mit ihren schrundigen Oberflächen nicht über einen gewissen Punkt hinaus nähern kann. „certain“ weist einen zurück, es gestattet dem Betrachter nicht, teilzuhaben an der menschlichen Nähe, die es zeigt. Man bleibt – im Widerspruch zum Titel – unsicher gegenüber diesem Bild. Ein wesentlicher Faktor dabei: das, was man sehen will und wozu man sehend Zugang sucht – die Oberkörper und die Köpfe der beiden Figuren –, ist im unteren Bilddrittel angesiedelt. Auf Augenhöhe des Betrachters sind die Knie und die Füße.

Am „Triptychon“ von Neunkirchen sind elementare Züge der Arbeit von Andrea Neumann und ihres künstlerischen Selbstverständnisses ablesbar. Ich fasse sie hier thesenartig unter drei Schlagworten zusammen: „Zufall und Kontrolle“, „Bilder nach Bildern“ und „Keine Antworten“.

1 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, hrsg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1989, S. 182-189.

1. Zufall und Kontrolle

Andrea Neumanns Kunst entfaltet sich in der Andeutung, sie lebt von der Offenheit und vom Nonfinito. Die Künstlerin rechnet auf unsere geistige Aktivität beim Schauen – darauf, dass wir das, was sie uns virtuos verkürzt anbietet, weiter und zu Ende denken werden. Vielfach strömt die Farbe unabhängig von jeder Gegenstandsbezeichnung frei über die Bildgründe. Einzelne Partien bluten an den Rändern aus. Beim Malen legt Neumann ihre Leinwände gern auf den Boden und lässt die Farben dabei auch frei fließen und sich mischen. Ihre Arbeit besteht ganz wesentlich daraus, das eigene vorgefasste Konzept, die eigenen Intentionen mit dem Eigensinn des Materials auszutarieren. Es ist ein offenes Spiel zwischen Kontrolle und Zufall.

Das Geheimnisvolle und Beglückende dabei: gerade weil Neumann den Zufall zulässt, bilden sich wie von selbst gegenständliche Formen, gerade darum sehen wir, was eigentlich gar nicht gemalt ist. Nicht selten, und das macht die Auseinandersetzung mit ihrer Malerei zu einer intellektuell stimulierenden Herausforderung, fließen mit den Farben auch die Formen ineinander und werden zwei- oder vieldeutig. Wie auf einem Vexierbild schlagen Figur und Grund ineinander um. Vermeintlich feste Körper lösen sich auf, verwandeln sich. Bezeichnenderweise heißt eines der Bilder in dieser Ausstellung (es zeigt einen liegenden weiblichen Akt, der aus einem dunklen Fond herauszuwachsen oder wahlweise in ihm zu versinken scheint): „metamorph“ (2015).

Ein wunderbares Exempel für die Metamorphosen, die in Andrea Neumanns Malerei vorgehen, ist ein Bild „ohne Titel“ aus dem Jahr 2014. Natürlich identifizieren wir sofort die eigentümliche Silhouette einer Hyäne mit ihrem auf einem langen Hals geifernd vorgereckten Maul und der niedrigen Hüftpartie, wir erkennen das Fleckenmuster auf ihrem Rücken und verstehen sofort das Schrittmotiv des rechten Vorderlaufs. Aber wirklich GEMALT ist das so klar benennbare Tier nicht. Genau besehen, funktioniert die Darstellung eher aufgrund großzügiger Auslassungen und weil das Motiv sich in vibrierender Farbe auflöst, als wegen präzise wiedergegebener Details.

Dabei ist einem Missverständnis vorzubeugen: Die Farbe auf Neumanns Bildern mag in stetiger Bewegung sein, sie mag strömen, fließen und flackern. Aber ihre Malerei ist niemals spontan oder gar expressiv. Es ist eine reflektierte, langsame Malerei, deren kühne Abkürzungen auf der Balance zwischen der Akzeptanz von (wie auch immer zufälligen) Wirkungen und Wechselwirkungen des Materials und bewussten und entschiedenen Setzungen beruhen – und auf kühler Abwägung und dauernder, skrupulöser Selbstbefragung. „Das Schönste“, sagt die Künstlerin, „ist der Schwung des Anfangs. Dann kommt das schichtweise Ringen um Figur, Licht und Raum.“

2. Bilder nach Bildern

Andrea Neumanns Malerei basiert auf Fotografien, sie malt Bilder nach Bildern. Sie reflektiert also mit den spezifischen Mitteln einer traditionellen Kunstgattung die Praktiken und Spielregeln der jüngsten Medien, deren wir uns bedienen – Medien, die, seitdem es das Internet und seine mobile Nutzung gibt, eine Lawine von Bildern entfesselt haben. Noch nie in seiner Geschichte ist der Mensch derart, an allen Orten und zu allen Zeiten, von Bildern umstellt gewesen. Zugleich hat wohl noch nie zuvor eine derartige Gleichgültigkeit Bildern gegenüber geherrscht – und eine derartige Unkenntnis darüber, wie sie eigentlich zu lesen sind. Hier setzt Andrea Neumann an: Sie will Bilder, die etwas bedeuten und die einen nicht gleichgültig lassen.

Die Motive dafür sucht sie nicht, sondern sie kommen gleichsam auf sie zu. Es sind bestimmte Personenkonstellationen und Handlungszusammenhänge oder eine besondere Stimmung, ein besonderes Licht, die sie ansprechen und sie dann über lange Zeit nicht mehr loslassen: Momente, in denen sie etwas spürt, das über den eigentlichen Anlass hinausweisen und Allgemeingültigkeit besitzen kann. Mit den Worten von Andrea Neumann: „Teilweise fotografiere ich dann selbst oder suche im Internet, in Filmen nach Bildern / Standbildern etc. Meist formt sich dann aus verschiedensten Bildern zu einer ähnlichen Situation so eine Art (für mich) ‚prototypische‘ Vorstellung, die die Situation wie ein Konzentrat aus verschiedenen Ansichten versucht heraus zu destillieren.“

Das Bild „Geste 2“ (2013) macht unmittelbar deutlich, was damit gemeint ist: Bei aller quecksilbrigen Beweglichkeit und Bewegtheit der Farbe, bei aller Offenheit des malerischen Gestus‘ erfasst man als Betrachter sogleich, worum es geht: Die Komposition wird dominiert von der schlanken Gestalt eines Mannes ganz in Schwarz am rechten Rand der Leinwand. Sichtlich angespannt beugt er sich mit vorgerecktem Kinn nach links, um – die Hand auf ein Buch (die Bibel?) gelegt – vor Zeugen einen Eid abzulegen. Gezeigt wird eine elementare Handlung, die in unserem Kulturkreis eine besondere Bedeutung hat, geradezu magisch aufgeladen ist. Die weitere Ausgestaltung der Szene unterstreicht das: das Assistenzpersonal (dem Anschein nach Popen mit ihren typischen Kopfbedeckungen und Gewändern) ebenso wie die brennenden Kerzen im Vordergrund (wiederum ein Detail, das mehr imaginiert werden muss als dass es gemalt wäre). Aber: wer genau da wann was schwört oder beeidet, lässt sich unmöglich sagen. Das Gemälde löst das ihm zugrundegelegte Bild aus seinem Kontext und von seinem geschichtlichen Ort.

Zu Historienbildern taugen Andrea Neumanns Arbeiten nicht. Sie wollen weniger sein und sind zugleich mehr – weniger, weil sie vollkommen absehen von dem konkreten Moment, dem die Malerei ihr Motiv verdankt; mehr, weil sie ein zufälliges (und auf dem einen oder anderen Weg der Künstlerin zugefallenes) visuelles Dokument zu einem Archetypus verdichten und unserer Imagination die Freiheit geben, den eigenen Vorrat an Erfahrungen und Erinnerungen in ihn hineinzuprojizieren. Wir erkennen in diesen Bildern die Rituale, denen wir vertrauen und mit denen wir uns im Miteinander unter Menschen absichern. Zugleich ist in der Textur der Malerei jene nagende Ungewissheit aufgehoben, die uns niemals Ruhe finden lässt – jener tief sitzende Zweifel, den Georg Büchners Danton auf den Punkt bringt, wenn er desillusioniert sagt: „Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“

Genau in diese Richtung weist auch der mehrdeutige Titel der Ausstellung: „abkommen“. Er spielt einerseits auf die Konventionen und Verbindlichkeiten an, denen wir uns bewusst oder unbewusst unterwerfen, auf die Abkommen, die wir treffen – mit uns selbst und mit anderen. Als Verb gelesen, beinhaltet er andererseits den Hinweis auf die latente Gefahr, von eben diesen Verpflichtungen der Gesellschaft und uns selbst gegenüber abkommen zu können, sich von ihnen zu entfernen oder sich ihnen zu entziehen.

3. Keine Antworten

Andrea Neumanns Bilder muten dem Betrachter einiges zu. Sie sind in hohem Maße unbequem. Malerisch und motivisch offen, wie sie sind, fordern sie beständig die Reflexion heraus, ohne ihr je die Befriedigung zu geben, mit der gestellten Aufgabe fertig zu werden und an einem Ziel anzukommen. Kunst, sagt Andrea Neumann, „liefert keine Antwort.“ Ihre Bilder konfrontieren den Betrachter denn auch mit lauter kaum jemals zu beantwortenden Fragen, etwa: Für was oder gegen wen argumentiert der Redner, der mit energisch erhobener Linker in einem diffusen Raum steht – und worauf stützt dieser Mann sich eigentlich? Was geschieht gerade zwischen der hockenden Frau im schwarzen Kleid und dem Kaninchen, nach dem sie die Hand ausstreckt – wird das Tier umsorgt oder wird es angelockt, um geschlachtet zu werden? Ist der Kameramann noch ein neutraler Beobachter oder schon eine Bedrohung? Hängt der Athlet wirklich souverän an der Turnstange – oder verliert er gerade die Kontrolle und stürzt ab?

Eine kohärente Erzählung oder gar eine These wird man aus den Arbeiten von Andrea Neumann nicht ableiten können. Sie entziehen sich allen Versuchen, sie zu instrumentalisieren. Und mitunter entziehen sie sich sogar dem Bemühen der Künstlerin, ihnen im Nachhinein einen treffenden Titel zu verleihen. Nicht wenige Arbeiten hören zumindest eine Zeitlang auf mehrere „Namen“ – und manche bleiben programmatisch „ohne Titel“. Ist ein Titel schließlich gefunden, eröffnet er sogleich neue Spekulationen. Um es am Beispiel von zwei soeben genannten Arbeiten anzudeuten: Was meint der grammatikalische Begriff „konjunktiv“, wenn er – und zwar mit kleinem Anfangsbuchstaben – der Darstellung eines engagierten Redners zugeordnet wird? Wie ist das Wort „votiv“ zu verstehen, wenn es mit dem Bild einer Frau mit einem Kaninchen assoziiert wird?

Den Bildern Andrea Neumanns gegenüber gleichgültig zu bleiben, ist fast unmöglich. Nicht weil sie den Betrachter mit spektakulären oder schockierenden Szenen herausforderten, sondern im Gegenteil deswegen, weil sie sich so weit in sich selbst zurückziehen, dass man gedanklich tief in sie eindringen muss, um ihrem Geheimnis wenigstens ein Stück weit auf die Spur zu kommen. Man kann sich – abgestumpft vom visuellen Überbietungswettbewerb der Medien – angesichts der Stille dieser Malerei und ihres eklatanten Mangels an Aufmerksamkeit heischenden Effekten entscheiden, ihr weiter keine Beachtung schenken zu wollen. Und ohne Zweifel gehört das ins künstlerische Kalkül von Andrea Neumann. Aber wenn man sich einmal auf ihre Arbeiten eingelassen hat, entfalten sie einen Sog, dem man sich schlechterdings nicht entziehen kann.

„I’m free – I’m bound“ (2015): Was geht vor zwischen dem Mann und der Frau, die sich auf diesem großen, in etwa quadratischen Bild gegenüberstehen, gemalt auf zwei entlang der horizontalen Mittellinie zusammengenähten Leinwänden? Obwohl der Blickkontakt dafür eine entscheidende Rolle spielt, sind die einander zugewandten Gesichter des Paares eigentümlicherweise nicht ausgeführt. Besser gesagt: Sie scheinen ausgewischt zu sein, und auch die beiden Körper umgibt ein Halo aus weggewischten Konturen. Man hat den Eindruck, der leere Raum zwischen den Figuren bebe, gerate entlang der Naht zwischen den beiden Leinwandstücken in Schwingungen bei dem Versuch, den richtigen Abstand (oder die angemessene Nähe) zwischen ihnen zu finden. Dabei bleibt völlig unklar, wo und wie genau sie eigentlich stehen, denn Andrea Neumann verweigert uns alle räumlichen Koordinaten. Unser Blick schwimmt halt- und orientierungslos in einem flächigen, verhalten atmenden und zwischen Hellbraun und Mattblau changierenden Farbraum.

„Kunstwerke, die der Betrachtung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, sind keine.“, sagt Adorno.2

2 Ebd., S. 184.

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