Das (er)inner(t)e Bild

Andrea Neumann, flüchtig | éphémère

Ernest W. Uthemann

Das Gedächtnis funktioniert nicht fotografisch, auch wenn der Volksmund manchen Leuten eine solche Fähigkeit zur Fixierung von Erinnerungen zuschreibt. Will man Metaphern für das Gedächtnis nennen, bildhafte Vergleiche (und deren wurden in der Geschichte etliche erfunden; vgl. Douwe Draaisma, Die Metaphernmaschine, Darmstadt 1999), so müsste man Labyrinthe, tiefe Brunnen oder – wie Sigmund Freud – „Zauberblöcke“ heranziehen, also eher verwirrende, undurchsichtige, palimpsest-artige Dinge. Die Fotografie ist gnadenlos unselektiv, sie bildet alles, was sich im Augenblick der Aufnahme vor der Linse befand, in gleicher hierarchieloser Präzision ab. Unsere Erinnerung aber fokussiert bestimmte Details, wenn auch zu unserem Leidwesen nicht immer jene, die für ein bestimmtes Ereignis zentrale Bedeutung hatten. Zugegeben: Darin, aber nur in diesem Punkt, ähnelt die Fotografie der Erinnerung – das rote Auto im Vordergrund des Fotos vom Trafalgar Square, das leuchtende Verkehrsschild in der Altstadt von Florenz gewinnen jene unbeabsichtigte Dominanz, die Roland Barthes (Die helle Kammer, Frankfurt am Main 1985, S. 36) punctum nennt. Doch charakteristischer als die Präsenz des Marginalen ist für das Bild der Erinnerung der „Blinde Fleck“, jene Einzelheiten einer einst gesehenen und erlebten Szene, die eigentlich – dessen ist man sich sicher – deren Wert und Wichtigkeit ausmachten, die man sich aber auch bei größter Anstrengung partout nicht mehr visuell vergegenwärtigen kann. Das führt dazu, dass man an seiner Fähigkeit zu zweifeln beginnt, Importantes von Nebensächlichem zu unterscheiden: In dem Augenblick, in dem man sich verliebte, gestikulierte jemand im Hintergrund, daran erinnert man sich deutlich – aber wie sah das objet du désir in jenem Moment aus? Das Laken des Sterbebettes eines nahe stehenden Menschen hatte einen Fleck – aber das Gesicht ist entschwunden. Das Beispiel entspringt nicht etwa morbiden Neigungen, sondern ist als Verweis auf das wiederum von Roland Barthes konstatierte Noema jeder Fotografie gemeint: „Er ist tot und wird sterben“, will sagen: Das Foto dokumentiert das Vergangene als Vergängliches, doch als etwas, das im Augenblick der Aufnahme tatsächlich existierte. Und dass überhaupt hier von Fotografie die Rede ist, hat seine Ursache darin, dass Andrea Neumanns Bildern zumeist Fotografien zugrunde liegen.

Diese Fotos sind natürlich auch von eben jener oben beschriebenen, von Rand zu Rand reichenden, gleichmäßigen Indifferenz gegenüber dem Abgebildeten wie jede Fotografie (sofern sie nicht in irgendeiner Form nachbearbeitet wurde). Mehr noch: Es handelt sich gewöhnlich um Schnappschüsse von der Kunstlosigkeit, wie man sie aus jedem, auch dem eigenen, Familienalbum kennt – Aufnahmen, die sich allenthalben ähneln und gerade darum (paradoxerweise?) für den Außenstehenden, der sie zu Gesicht bekommt, von außerordentlich geringem Interesse sind. Sie sind, in einem Wort, banal. Selbst die verschiedenen „Genres“ der privaten Erinnerungsfotografie werden in Andrea Neumanns Bildern fast ausnahmslos durchdekliniert: Da sind die Gartenszene, der Familienausflug, die spielenden Kinder, das heimische Interieur mit Schreibtischlampen, Kühlschränken oder Kinderspielzeug, da sind die Hochzeitsfeiern und die Reisesouvenirs. Die Abbildungsgenauigkeit jedoch ist bei der Umsetzung der Motive in Malerei verloren gegangen, die – zuweilen aufdringlichen – Details der fotografischen Aufnahmen, auch der Raum, in dem Figuren und Dinge sich befinden. Die Motive gewinnen zwei geradezu gegenläufige Eigenschaften: Sie zerfasern zu oft beinahe unzusammenhängenden Farbzonen, zu einem losen Muster von Pinselzügen; gleichzeitig aber werden sie in der Bildfläche isoliert und damit konzentriert. Der Fokus richtet sich auf jene gestaltbildenden Eigenschaften der Gegenstände, die notwendig sind, um das Verschwinden der Kenntlichkeit zu verhindern. Andrea Neumanns Bilder berufen sich zwar in ihrem Motivbestand, auch in den Grundzügen ihrer Komposition auf die dokumentarischen Eigenschaften der Fotografie, verwandeln deren Präzision aber in die schemenhafte Emanation des gerade noch Erinnerlichen. Die Draufsicht einiger Szenen im Garten verdankt sich natürlich zugrunde liegenden Fotos, die vom Balkon aus aufgenommen wurden. Im Gemälde aber wirken diese Ansichten, als entferne sich die Malerin, der Betrachter unaufhaltsam von den Gegenständen und Figuren, als könnten diese nicht festgehalten werden, als spiegele die lockere Malweise die Eile, mit der das Flüchtige kurz vor seinem endgültigen Verschwinden noch fixiert werden sollte. Auf diese Weise mutieren die trivialen Motive zu Traumbildern, die man nicht festhalten kann, der Blick von oben zu der Fähigkeit des Träumenden zu fliegen. Der Blickwinkel wird zur Metapher dafür, wie Erinnerung funktioniert.

„Surreale“ Momente der Realität werden auch dort vorgeführt, wo der Betrachter über die Maßstäblichkeit der Bildmotive im Unklaren gelassen wird. Die künstlerische Methode, Gegenstände unterschiedlicher Herkunft und Dimension miteinander zu verkoppeln, ist seit Lautréamont und den Surrealisten eine bis heute geübte Möglichkeit, Sehgewohnheiten zu unterminieren. Aber wo dies mit fotorealistischer Genauigkeit passiert, hält sich die Verunsicherung des Betrachters in Grenzen: Hat man die verschiedenen Gegenstände identifiziert, so kehren sie gewissermaßen in ihre je eigene Sphäre zurück (was der Grund dafür war, dass Max Ernst seine Collagenromane nur als fotografische Reproduktionen zeigen wollte, um nämlich die Nahtstellen zwischen den Bildelementen unterschiedlicher Herkunft zu kaschieren und damit das verwirrende Bildkontinuum aufrecht zu erhalten).

Andrea Neumanns summarische Malweise trägt weit mehr zu einer Verunsicherung des Betrachters bei als die noch immer florierenden, spätsurrealistischen Montagen in veristischer Manier, wenn sie etwa Spielzeugkühe und -pferde in einen weitgehend ungeklärten Raum stellt. Denn obwohl auch diese Bilder zumeist auf Fotos fußen, löst sich die Gegenständlichkeit bis zu einem gewissen Grade im malerischen Vortrag auf. Gelegentlich entsteht so etwas wie ein Vexierbild, in dem die Motive ihre Maßstäblichkeit ändern, je nachdem, ob der Betrachter den Grund, auf dem die Kuh steht, als Weide oder als Fensterbrett auffasst. Auch hier wieder das Moment der Erinnerung: Die Wahrnehmung des Motivs ist nur an sehr wenige „reizauslösende“ Elemente gebunden, und so erinnern eben bestimmte Formen unweigerlich an bestimmte Naturvorbilder. Andrea Neumann schaltet hier eine zweite Wirklichkeitsebene zwischen Motiv und Betrachter: Die Spielzeugkuh, das Modellhäuschen sind ja selbst schon Abbilder.

Beeindruckend ist zweifellos, mit wie geringem „Aufwand“ die Künstlerin die Bilder der Gegenstände erschafft, ohne jemals einer oberflächlichen Virtuosität zu verfallen. Der Topfschwamm, die Schreibtischlampe, der Laptop, Porträts, Stillleben und Landschaften entstehen aus nicht mehr als einigen wenigen farbigen Pinselzügen, nuanciert zwar, aber reduziert. Und damit kommt Andrea Neumann der Funktionsweise der Erinnerung sehr nah. Unser Bildgedächtnis nämlich ist gar nicht fotografisch, nicht einmal im Idealfall, sondern kodiert, das heißt: Wir bedürfen nur einiger weniger visueller Auslöser, um ein komplexes Erinnerungsbild zu generieren – in der täglichen Wirklichkeit wie in der Malerei. Aber dennoch oder gerade darum erreichen unsere inneren Bilder niemals fotografische Präzision. Und eben dies malt Andrea Neumann, nämlich die Spannung zwischen Dokument und Gedächtnis. Die oft gesichtslosen Figuren erscheinen aus Träumen und mühsam regenerierten Erinnerungen, obwohl sie irgendwann auf Fotografien genauestens fixiert wurden (nicht immer zur Freude des Dargestellten, wie wir alle wissen). Doch die Fotos – sind sie nicht vielleicht selbst schon Traumbilder? Darstellungen von Vorstellungen? Das Fotografieren, ist es nicht bereits der magische Akt, als der er in „Ohne Titel“ von 2004 oder in „Ohne Titel (Fotograf)“ von 2007 erscheint? Ans Numinose rühren etwa die Statuetten in „Chapelle“ (2006) nicht vor allem, weil es sich um Heiligenfiguren handelt, sondern weil sie im Gemälde wie Emanationen dargestellt sind. Andrea Neumann zeigt, dass die Kunst etwas Unerhörtes und scheinbar Widersinniges kann: das Ungreifbare als das zu manifestieren, was es ist – ungreifbar nämlich -, und dies in Bildern zu materialisieren.

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